Berner Familientagung, März 2015

Zur diesjährigen Tagung in Bern hatten sich rund 60 Personen angemeldet. Nach der Begrüssung informierte Dr. Rainer Kobelt u.a. über neue Informationen, die am 8. EAHAD-Kongress in Helsinki präsentiert worden waren, der im Februar 2015 stattfand.

Der 2. Teil des Morgenprogramms gehörte den Physiotherapeuten, welche über die Behandlungen von problematischen Gelenken referierten. Den Abschluss bildete eine Diskussion in Gruppen über den Umgang mit schmerzenden Gelenken. Die Kinder wurden während dieser Zeit von einem Clown in die obere Etage entführt und bis am Mittag bestens unterhalten.

Dr. Kobelt präsentierte wie gewohnt kompetent und differenziert über Schutzmassnahmen gegen Blutungen. Es sei wichtig, Risiken so gut wie möglich zu vermeiden, aber auch Stress. Eine Prophylaxe sollte individuell angepasst sein. Bei der Substituierung ist die richtige Dosierung wichtig. Heute gibt es einfache Modelle, welche mit wenigen Blutentnahmen wichtige Daten liefern, um die Dosierung optimal anzupassen. Mit den long-acting Faktoren, welche in rund einem Jahr auf dem Schweizer Markt erhältlich sein dürften, wird die richtige Dosierung noch mehr an Bedeutung gewinnen.

Der Referent wies auch darauf hin, dass eine nur zu 80 % umgesetzte Prophylaxe im Jahresablauf viele «ungeschützte» Tage ergibt, welche ein grosses Blutungsrisiko bergen. Ein weiteres Element zur Steuerung der Prophylaxe ist die Beurteilung der Gelenke per Ultraschall, welche bereits sehr frühe Veränderungen erkennen lässt. Wenn es doch zu einer Blutung kommt, muss diese schliesslich ausreichend und korrekt nachbehandelt werden.

Dr. Kobelt führte dann zum Thema Frauen mit Hämophilie über, welches bisher noch nicht häufig zur Sprache kam. Jede männliche Person mit Hämophilie hat im Schnitt 1,5 weibliche Verwandte, welche das Hämophilie-Gen in sich tragen. Davon weisen 20–40 % eine verminderte Aktivität des Faktorspiegels auf. Die Faktor-Restaktivität alleine reicht allerdings nicht immer aus um die Blutungsneigung einer betroffenen Frau richtig zu erkennen, hier spielen offensichtlich noch weitere Aspekte eine Rolle. Frauen mit einer verstärkten Blutungsneigung benötigen im Fall von Problemen die gleichen Behandlungsmassnahmen wie männliche Hämophile und sollten sich daher ebenfalls an einem Hämophilie-Zentrum behandeln und regelmässig untersuchen lassen.

Immer wieder ergeben sich Diskussionen zum besten Vorgehen bei der Geburt eines Knaben mit einer (möglichen) Hämophilie. Grosse Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Kaiserschnitt nicht weniger, sondern höchstens andere Risiken mit sich bringt als eine normale Geburt. Unbedingt zu vermeiden sind hingegen Geburten per Zange oder Vakuum. Frauen mit einer erhöhten Blutungsneigung haben nach einem Kaiserschnitt hingegen unter mehr Komplikationen zu leiden, was beim Entscheid ebenfalls mit zu berücksichtigen ist.

Es wird häufig festgestellt, dass medizinische Untersuchungen bei Frauen verzögert werden, was diverse Gründe hat. Bei erhöhter Blutungsneigungen und anstehenden Operationen sollte bei sicheren oder möglichen Konduktorinnen in jedem Alter mehrmals die Faktoraktivität gemessen werden. Ein Gentest darf hingegen erst bei einer mündigen Frau durchgeführt werden, wobei dieser in der Schweiz relativ teuer ist und nicht immer von den Kostenträgern übernommen wird. Dr. Kobelt verwies in diesem Zusammenhang zudem auf die Möglichkeit eines Mosaizismus, dass also eine Mutation nicht in allen Zellen vorhanden sein muss. Daher schliesst ein normaler Befund einer genetischen Abklärung in Blutzellen nicht sicher aus, dass eine Frau dennoch Überträgerin sein kann.

Berner Familientagung, März 2014


Neue Therapien
Im Weiteren informierte Dr. Kobelt über den aktuellen Stand bei neuen Therapien. Bei der Gentherapie der Hämophilie B (Mangel an Faktor IX) wurden kürzlich die Resultate mehrerer Patienten veröffentlicht, welche drei Jahre nach einer solchen Behandlung noch immer eine gute Wirkung erkennen lassen.

Ein neuartiger Ansatz ist der Wirkstoff ACE910, einem Antikörper, der die Funktion des aktivierten Faktors VIII imitiert. Er wirkt zwar nicht ganz so stark, dafür hält der Effekt mehrere Wochen lang an und das Produkt lässt sich subkutan verabreichen. Die Wirkung wird zudem auch von einem FVIII-Hemmkörper nicht beeinträchtigt. Leider ist das Produkt erst in der Phase der klinischen Versuche, es bleibt abzuwarten, wie sich diese entwickeln werden.

Gelenke bei hämophilen Kindern
Denise Etzweiler, Physiotherapeutin FH, Kinderspital Zürich

1. Gelenkblutung – was tun?
Die häufigsten Gelenksblutungen kommen im Knie, Ellbogen und Sprunggelenk vor. Auch unter Prophylaxe mit Faktorpräparaten kann es zu einer Blutung kommen. Um diese schnellstmöglich zu stoppen und somit möglichst klein zu halten, ist es wichtig, unverzüglich Gerinnungsfaktor zu spritzen und das Gelenk sofort zu entlasten. Als unterstützende Massnahme empfiehlt sich das sogenannte R I C E . Es ist die englische Abkürzung für:

  • R = Rest (ruhigstellen)
  • I = Ice (kühlen)
  • C = Compression (leichter Druck durch Bandage oder Strumpf)
  • E = Elevation (hochlagern)

Wichtig ist vor allem die Ruhigstellung! Diese ist unabdingbar, damit das Blut resorbiert werden kann und das Gelenk möglichst wenig Schaden nimmt. Die Grösse der Blutung bestimmt die Dauer der Ruhigstellung und den Übergang in den Alltag. Das Gelenk soll nur im schmerzfreien Bereich bewegt und erst dann wieder belastet werden (d.h. Gehen, Krabbeln), wenn die Schwellung praktisch nicht mehr sichtbar ist. Idealerweise steigert man danach die Belastung langsam und kontrolliert. Dies ist jedoch bei Kindern, mit ihrem Bewegungsdrang oft schwierig. So wird manchmal ein Gelenk einfach noch etwas länger ruhiggestellt oder das Kleinkind sitzt für den Sonntagsspatziergang einen zusätzlichen Tag im Buggy.

2. Gesunderhaltung der Gelenke
Kleinkinder und Kinder sollen viele Bewegungserfahrungen machen können. Es ist sehr wichtig, die Entwicklung der motorischen Fähigkeit zu fördern. So kann die Kraft, die Koordination und das Gleichgewicht trainiert und dadurch die allgemeine Verletzungsgefahr verringert werden.

Im Hämophilie-Zentrum werden bei der Jahreskontrolle der Gelenkzustand und das Bewegungsverhalten (inkl. Kraft und Koordination) beurteilt. Bei Schulkindern und Jugendlichen wird auch die Statik der Beinachse überprüft und allenfalls eine Schuhberatung durchgeführt.

Für viele Kinder und Jugendliche ist Sport ein wichtiges Thema und nimmt deshalb auch in der Sprechstunde oft viel Platz ein. Es gibt vieles zu beachten, wenn es um die Wahl der geeigneten Sportart geht. Klar ist, dass Extremsportarten wie Kampf- oder Kontaktsport tabu sind. Ansonsten muss einiges in die Überlegung zur Wahl miteinbezogen werden, allem voran die Gelenkbelastung und die Verletzungsgefahr. Hinsichtlich der Gelenkbelastung stehen Stopp & Go, Sprünge, Schläge und Stösse im Vordergrund. Mit dem Kontakt zum Gegner, mit hohem Tempo, Gewicht oder Höhe steigt die Gefahr auch von schweren Verletzungen.

Ein Hämophiler soll ein besonderes Augenmerk auf die Vorbereitung zur sportlichen Aktivität legen. Die Frage nach Notwendigkeit und Zeitpunkt der Faktorsubstitution gehören ebenso dazu, wie das Aufwärmen, eine gute Ausrüstung (Schuhe, Helm etc.) sowie das Informieren von Lehrern, Team-Mitgliedern oder Trainern. Bei der Ausübung des Sports sind die Intensität, die Dauer und die Regelmässigkeit zu berücksichtigen. Zudem gilt es die Körperwahrnehmung so weit trainiert zu haben, dass z.B. Schmerz oder Müdigkeit registriert werden und das Training angepasst oder gegebenenfalls unterbrochen werden kann.

Zusammen mit den Eltern und den Fachleuten in den Zentren soll versucht werden, das Kind bzw. den Jugendlichen auf seinem Weg, eine geeignete Sportart zu finden, zu unterstützen. Oft muss auch die Umgebung resp. die Peer Group in die Überlegungen miteinbezogen werden. Die positive Auswirkung der sportlichen Aktivität auf das soziale und psychische Wohlbefinden ist nicht zu unterschätzen. Es ist wichtig, sich trotz der Hämophilie, gut und gerne zu bewegen, da dies zur gewünschten Kraft, Ausdauer, Koordination und Geschicklichkeit führt, die angestrebt wird, um die Gelenke gesund zu erhalten.

Berner Familientagung, März 2014Berner Familientagung, März 2014


Behandlung von problematischen Gelenken
Mit Alexander Wiese, Lindenhofspital Bern, referierte ein weiterer Physiotherapeut über Möglichkeiten der Anwendung von Physiotherapie bei Hämophilen. Insbesondere richtete er seinen Fokus auf die Behandlung von Gelenken, die bereits Schädigungen aufweisen. Nach seinen Aussagen leiden 50 % der betroffenen Erwachsenen einmal täglich wegen Gelenksproblemen. Eine gute Physiotherapie durchbreche den Teufelskreis, in dem viele drinstecken. Wichtig sei in jedem Fall eine individuelle Therapie, verbunden mit entsprechender Empathie. Alexander Wiese erwähnte das Maitland-Konzept MT, welches zu deutlichen Verbesserungen führe. Mit einbezogen würden dabei auch die Lendenwirbelsäule, die Füsse und die Hüfte im Sinne einer gesamtheitlichen Betrachtung.

Alexander Wiese arbeitet auch nach der Medizinischen Trainingstherapie MTT. Die Befragten fühlten sich nach der Therapie subjektiv besser. Entscheidend sei, die richtige Dosierung herauszufinden. Bei der MTT werde an der Verbesserung von Gleichgewicht und Koordination gearbeitet und es werde versucht, Disbalancen zu beheben. Ideal sei es, wenn die Übungen in den Alltag integriert werden können.

Nach dem Mittagessen wurde für Interessierte ein Stechkurs angeboten. Gross und Klein machte ausgiebig Gebrauch von der Möglichkeit, unter Anleitung Venenpunktionen zu üben. Diverse Eltern und auch Ärzte stellten sich als Versuchspersonen zur Verfügung. Es wurden auch eifrig Erfahrungen ausgetauscht und Tipps weitergegeben.

Herzlichen Dank an das Ärzteteam aus Bern sowie die Psychotherapeuten für diesen informativen und abwechslungsreichen Tag!