HIV

Aufgrund nicht vorhandener Untersuchungen von Blutprodukten und fehlender rekombinanter Produkte haben sich Hämophilie-Patienten zwischen 1978 und 1986 auch mit HIV angesteckt. Die diesbezüglichen Zahlen aus verschiedenen Ländern reichen von einem Prozent über 42 bis 90 Prozent, generell wird von circa 50 Prozent ausgegangen.

Viele dieser Betroffenen starben an AIDS, bevor 1996 die hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) eingeführt wurde. Aber 27 bis 35 Prozent sind 20 bis 25 Jahre nach erfolgter Infektion noch am Leben, eine Minderzahl sogar weiterhin ohne bisher nötige HIV-Therapie. Diese besteht klassischerweise aus drei Substanzen aus mindestens zwei Substanzklassen. Beispielsweise zwei nukleosidische Reverse Transkriptase-Hemmer (NRTI) plus einen Proteasehemmer (PI) oder einen nicht-nukleosidischen Reverse Transkriptase-Hemmer (NNRTI). Langzeit-Nebenwirkungen beinhalten metabolische Komplikationen wie Diabetes mellitus, erhöhte Blutfette, Herzinfarkte, Fettverteilungsstörungen sowie Verminderung der Knochendichte und Leberschädigung. Da diese Erkrankungen zum Teil auch per se als Alterserscheinungen auftreten können, ist hier von einem kumulativen Effekt auszugehen.

Jedes einzelne Medikament hat ihm eigene Nebenwirkungen, so dass auch hier die Therapie in spezialisierten Zentren stattfinden sollte. Zum Beispiel wurde ein erhöhtes relatives Risiko für Herzinfarkte unter Therapie mit PI bzw. einigen NRTI beschrieben. Bei Einsatz von PI ist zudem eine erhöhte Blutungsneigung möglich, so dass hier die Faktorengabe gegebenenfalls angepasst werden muss.

NRTIs hingegen können mit einer Übersäuerung des Blutes (Laktatazidose) und Leberverfettung (Steatose) einhergehen, NNRTIs mit einer Hepatitis.

Zusätzlich zu potentiellen Therapienebenwirkungen kommt es auch in der chronischen HIV-Infektion langfristig zu vielen nicht AIDS assoziierten Komplikationen, v.a. in Patienten mit niedrigen T-Helferzellen, das heißt, es besteht ein T-Helferzellzahlabhängiges Risiko für diese Erkrankungen. Unbehandelte Patienten haben ein höheres Risiko. Eindrucksvoll demonstriert wurde dies in der SMART-Studie. Hier war die höhere Rate an nicht AIDS assoziierten Erkrankungen bei Patienten, die immer wieder viruslastgesteuerte Therapiepausen einlegten, im Vergleich zu permanent behandelten Patienten sogar so signifikant erhöht, dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde. Beobachtete Ereignisse waren Herzinfarkt, Krebs, Nierenversagen und Lebererkrankung. Vollständig verhindern kann diese aber auch eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie nicht, daher ist aktuell die Lebenserwartung in HIV-Monoinfizierten immer noch einige Jahre unter der der Allgemeinbevölkerung. Lediglich wenn im asymptomatischen Stadium A der HIV-Infektion eine ART begonnen wird, zeigt sich in mathematischen Modellen eine normale Lebenserwartung. Als Hauptursache wird hier die auch unter einer erfolgreichen ART noch nachweisbare chronische Aktivierung des Immunsystems gesehen. Die zunehmend beobachtbaren Folgen auf bestimmte Körpersysteme sind gerade Gegenstand intensiver und vielseitiger Forschung.

Zunehmende Herz-/Kreislauferkrankungen erklären sich zum einen durch die längere Lebenserwartung und zum anderen durch andere Risikofaktoren wie Rauchen und die bereits erwähnte chronische Immunaktivierung, der ein beschleunigender Effekt auf die Gefäßverkalkung (Atherosklerose) zugeschrieben wird. Auch einzelne HIV-Medikamente scheinen das Auftreten kardiovaskulärer Nebenwirkungen zu begünstigen (s. oben). Interessanterweise wird aber Hämophilie-Patienten und Trägern ein reduziertes Risiko für eben diese Erkrankungen zugeschrieben (80 Prozent weniger im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung). Inwieweit dieses Risiko aber durch eine HIV-Infektion wieder angehoben wird, ist zurzeit noch unklar.

Ebenfalls wahrscheinlich auf dem Boden einer weiterbestehenden Aktivierung des Immunsystems erklärt sich die Zunahme an Krebserkrankungen, natürlich besonders stark bei niedrigen T-Helferzellen, die mit einer hohen Immunaktivierung einhergehen. Das Risiko für die Krebsentstehung liegt in etwa so hoch wie bei Transplantatempfängern mit durch die Immunsuppressiva künstlich erzeugtem Immundefekt. Hauptentstehungsorte sind Lunge, Haut, Dickdarm, Analregion und Prostata. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und Rauchentwöhnungsprogramme sollten hier wahrgenommen werden.

Gründe für Lebererkrankungen sind zum einen virale Infektionen (und hier an ersten Stelle die Hepatitis C) und zum anderen schädigende Substanzen wie Alkohol oder über lange Zeit auch einige HIV-Medikamente. Einige (Ritonavir, Stavudine, Didanosine, Nevirapin) sollten daher bei bereits bekannt eingeschränkter Leberfunktion nicht gegeben werden.

Eine höhere Rate an chronischer Niereninsuffizienz konnte bei vor allem afro-amerikanischen HIV-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung beobachtet werden. Der direkte Mechanismus ist bisher noch unklar. Bekannt ist ein Rückgang der Nierenleistung unter dem HIV-Medikament Tenofovir bei bereits nierenkranken Patienten.

Zusätzlich zu Erkrankungen in diesen vier großen Bereichen kommen stetig neuere hinzu, so zum Beispiel pulmonal-arterieller Hochdruck, neurologische Einschränkungen und Rückgang der Knochendichte mit erhöhtem Risiko für Knochenbrüche!

Einige dieser eben beschriebenen Erkrankungen sind auch als typische Langzeitbegleiterkrankungen der HCV-Infektion bekannt, so dass hier von einem sich gegenseitig verstärkenden Effekt der beiden Virusinfektionen auszugehen ist. Bekannt ist bereits eine Beschleunigung der HCV-assoziierten Leberfibroseentwicklung durch eine HIV-Infektion.

Aufgrund all dieser geschilderten Probleme empfehlen nationale und internationale aktualisierte HIV-Therapieleitlinien mittlerweile einen früheren ART-Beginn. Ebenfalls wird eine frühe Therapie der Hepatitis-C-Infektion empfohlen bzw. ein erneuter Therapieversuch, wenn der erste schon Jahre zurück liegt und mit zu niedriger Ribavirin-Dosis erfolgte oder ein Genotyp 1 vorliegt und damit eine Retherapie unter Einschluss der neuen HCV-Proteasehemmer erfolgen könnte.

Neben den allgemein bekannten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung wie Rauchverzicht, mäßiger Alkoholkonsum und regelmäßiger Sport sollten wiederkehrend Untersuchungen, insbesondere auf Herzerkrankungen (EKG, Ultraschall), Leber- und Nierenschäden (Ultraschall, Fibroscan, Labor) und Krebserkrankungen (Röntgen, Koloskopie), angeboten und wahrgenommen werden.

Zusammenfassend sollte aber betont werden, dass sich diese in der Menge zugegebenermaßen beängstigenden neuen Probleme einer länger bestehenden Koinfektion bei Hämophilie-Patienten nur stellen, weil die Lebenserwartung durch die immens verbesserten und erfolgreichen Therapien so stark gestiegen ist, dass Betroffene nun – so paradox es klingen mag – alt genug werden, um diese Komplikationen auch erleben zu können.

Es kommen also auf Patient und Behandler neue Herausforderungen zu, in denen die ursprünglichen Grunderkrankungen nur Teil eines breiten Spektrums an Gesundheitsstörungen sind, die in zunehmenden Maße nur inter- und multidisziplinär zu betreuen sein werden.

Christoph Boesecke und Jürgen Kurt Rockstroh
Immunologische Ambulanz, Medizinische Klinik und Poliklinik I, Universitätsklinikum Bonn

Quelle: Deutsche Hämophiliegesellschaft